Aufnahme: Kerstin
Aufnahme: Kerstin

  

  

 

Schuld

 

 

Die Idee von der „Schuld“ mag zu einer bestimmten Zeit eine wertvolle Errungenschaft auf dem Weg unserer menschlichen Entwicklung gewesen sein. Heute wirkt sie auf manch einen wie ein Relikt aus dunkler Zeit.

 

Und sollte die neurobiologische Forschung Recht behalten, müssen wir uns die Idee von der „Schuld“ sowieso ganz neu anschauen. Denn ihrer Forschungs-Erkenntnis nach ist unser Tun bereits vor unserer Absicht, es zu tun, entschieden.

  

Schuld

Schuld & Sühne

Der Wert des Menschen

 

  

 

 

Nuancen

 

 

Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab mich noch selten getäuscht.

~  Johann Nepomuk Nestroy

 

Hier irrst du, Johann Nepomuk, das Pendel ruht nicht an den Enden seiner Ausschläge.

 

Wir alle...

haben alle Anlagen für Alles in uns.

Nichts Menschliches ist uns fremd.

 

Es sind lediglich Nuancen, die uns von einander unterscheiden.

  

 

 

 

Unschuld

 

  

Man tratscht die folgende Geschichte:

 

Ein Menschenauflauf irgendwo in Galiläa.

Eine Frau soll gesteinigt werden, weil sie sich mit einem anderen Mann vergnügt hatte.

Jesus schiebt die Leute beiseite, drängt sich nach vorn und ruft theatralisch: "Derjenige unter euch, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!"

Eine Frau schält sich aus der Menge, nimmt einen Stein auf und wirft ihn der Frau an den Kopf.

Als Jesus das sieht, schimpft er los: "Mutter, du hältst dich da raus!"

 

  

 

 

Von Schuld und Sühne

 

 

"Dann trat einer der Richter der Stadt vor und sprach: Sprich zu uns von Schuld und Sühne. Und er sprach...

 

Wenn euer Geist umherschweift auf des Windes Rücken, tut ihr, allein und unbedacht, den andern Unrecht und dadurch wohl auch euch. Und für dies Unrecht müsst ihr dann ans Tor der Seligen klopfen und eine Weile unbeachtet warten. 

 

In eurem Ich ist Göttliches, das ewig rein bleibt wie das Meer. Und wie der Äther hebt es nur jenen an, der Flügel hat. Gar wie die Sonne ist  das Göttliche in eurem Selbst. Es kennt des Maulwurfs Gänge nicht, noch sucht es der Schlange Versteck. 

 

Doch Göttliches wohnt nicht allein in eurem Sein, vieles in euch ist noch Mensch, und vieles in euch ist noch nicht Mensch geworden, sondern Zwergenhaftes ohne Gestalt, das schlafend im Nebel wandelt und nach Erwachen sucht. Und vom Menschen in euch möchte ich jetzt sprechen. Denn er ist es, und nicht das Göttliche in euch, auch nicht der Zwerg im Nebel, der Schuld und Sühne kennt.

 

Oftmals hört’ ich euch reden von einem, der Unrecht begeht, so als sei er nicht einer von euch, sondern ein Fremder und ein Eindringling in eure Welt.

 

Aber ich sage euch, selbst wie der Heilige und Rechtschaffene sich nicht über das Höchste erheben kann, das in jedem von euch ist, so kann der Böse und Schwache nicht tiefer fallen als zum Niedrigsten, das auch in euch ist.

 

Und wie ein einzelnes Blatt nicht ohne das stille Wissen des ganzen Baumes sich färbt, so kann auch der Übeltäter kein Unrecht tun ohne den verborgenen Willen von euch allen. Gemeinsam schreitet ihr dem Göttlichen in euch entgegen. Ihr seid der Weg und die, die auf dem Wege sind. Und wenn einer von euch fällt, so fällt er für jene, die ihm folgen und warnt so vor dem Stolperstein. Ja, und er fällt für jene, die ihm vorausgegangen, und obgleich schneller und sicherer im Tritt, den Stolperstein beließen. Und diese Worte noch, wiewohl sie schwer auf eurem Herzen lasten:

 

Der Ermordete ist nicht ohne Verantwortung an seiner Ermordung,

und der Beraubte nicht schuldlos an seiner Beraubung. Der Rechtschaffene ist nicht unschuldig an den Taten der Bösen, und der mit den sauberen Händen ist nicht unbefleckt von der Verbrecher Taten

 

Ja, der Schuldige ist oftmals Opfer des Geschädigten. Und öfter noch trägt der Verdammte die ganze Last für jene ohne Schuld und Tadel.

 

Ihr könnt Gerechte nicht von Ungerechten trennen und nicht die Guten von den Bösen, denn sie stehen zusammen vor dem Angesicht der Sonne, so wie der schwarze Faden ist verwoben mit dem weißen. Und wenn der schwarze Faden reißt, wird der Weber das ganze Tuch und auch den Webstuhl prüfen.

 

Wenn einer von euch die treulose Ehefrau vor den Richter bringt so lege man auch das Herz ihres Ehemannes in die Waagschale und wäge seine Seele.

 

Wer den Übeltäter auspeitschen will,

sollte die Seele des Opfers erforschen.

 

Wenn einer von euch im Namen der Rechtschaffenheit strafen und die Axt an den Baum des Bösen legen möchte, soll er auch dessen Wurzeln schaun. Und wahrlich, er wird die Wurzeln des Guten und des Bösen finden, des Fruchtbaren und des Unfruchtbaren, alle ineinander verflochten im stillen Herzen der Erde.

 

Und ihr Richter, die ihr gerecht sein wollt, welch Urteil sprecht ihr über den, der ehrlich zwar im Fleisch, im Geist jedoch ein Dieb ist?Welche Strafe verhängt ihr gegen den, der im Fleisch tötet, aber im Geist selbst den Tod erfährt? Und wie verfolgt ihr den Betrüger und den Unterdrücker, der zugleich selbst beraubt ist und empört?

 

Und wie bestraft ihr jene, deren Reue

bereits größer ist als ihre Missetat?

 

Ist nicht die Reue schon das Recht, das eben dies

Gesetz vollstreckt, dem ihr so gerne dienen würdet?

 

Doch könnt ihr nicht dem Unschuldigen Reue auferlegen, noch sie vom Herzen des Schuldigen nehmen. Ganz ungebeten ruft sie in der Nacht, auf dass die Menschen erwachen und in sich schauen.

 

Wie wollt ihr denn Gerechtigkeit verstehen können, 

wenn ihr nicht alle Taten im hellsten Licht betrachtet?

 

Erst dann werdet ihr wissen, dass der Aufrechte und der Gefallene nichts als  e i n  Mensch sind im Zwielicht der Nacht seines zwergenhaften Ichs und dem Tag seines göttlichen Selbst. Und dass der Grundstein des Tempels nicht höher ist als der niedrigste Stein in seinem Fundament."

― Khalil Gibran

Der Prophet

 

  

 

Rück-Erinnerung

 

 

  

 

Das erinnert mich an eine Rück-Erinnerung meiner Freundin, die ihr kam, als sie auf dem Spazierweg mit ihrem Hund unter einem Baum saß. Wie sie mir erzählte, sah sie mich als "Großinquisitor" und sich selbst als dessen Geliebte. 

 

In einer weiteren Rückerinnerung, ein paar Wochen später sah sie sich selbst auf dem Scheiterhaufen stehen und mich - diesmal als ihre Tochter - an ihrer Seite.

 

 

 

 

Ausgleich

 

   

Der Ermordete ist nicht ohne Verantwortung...

― Khalil Gibran

 

"Die Aussage Khalil Gibrans basiert auf dem Grundsatz, dass alles, was geschieht, einen Sinn hat.

 

In der westlichen Philosophie stützt sich dieser Grundsatz vor allem auf das aristotelische Resonanzgesetz, demzufolge Gleiches Gleiches anzieht bzw. erzeugt.

 

Der östliche Begriff „Karma“ geht noch weiter, insofern er postuliert, dass jedes einzelne Schicksal die notwendige Folge früherer Handlungen der betreffenden Personen darstellt.

 

Demzufolge wäre der Ermordete ein ehemaliger Mörder, der Beraubte ein früherer Räuber usw. Nach dem Karma-Gesetz wäre es aber ebenso möglich, dass sowohl der Mörder als auch der Ermordete durch eine Kette von verschiedenen Vergehen so viel negatives Karma angesammelt haben, dass es zu deren Ausgleich eines Mordes bedarf, dem sie im spirituellen Sinne beide zum Opfer fallen, da auch der Mörder – durch Ansammlung negativen Karmas – die Folgen seiner Tat für die Zukunft vorprogrammiert. Der Dalai Lama geht sogar so weit zu behaupten, das Opfer mache karmisch den besseren Deal, da es negatives Karma tilge, während der Täter neues schaffe.

 

Natürlich könnte man eine solche Betrachtungsweise als Verhöhnung der Opfer betrachten. Dies gilt jedoch nur im immanenten oder juristischen Sinne. Aus der transzendenten oder spirituellen Warte betrachtet, findet jede Tat ihren Ausgleich. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Perspektiven besteht also darin, dass die immanente Sicht-weise auf eine einmalige physische Verkörperung eines Menschen ausgerichtet ist, und somit bei seinem Tod eine absolute Bilanz gezogen werden kann, die nach dem transzendenten Ansatz dagegen relativ ist, da er im physischen Tod nur eine Zwischenstation der unsterblichen Seele sieht.

  

Daraus ergibt sich eine für das menschliche Zusammenleben wichtige Konsequenz. Das immanent denkende Opfer, sofern es überlebt, kann nur in Strafe und/oder Rache Genugtuung finden, während der transzendente Mensch den Ausgleich für begangenes Unrecht getrost dem Schicksal überlassen kann."

― Andreas Tenzer

Köln im September 2009