Der Dieb ...und die Decke des Mystikers

 

 

Da fällt mir eine Geschichte ein...

Ein Dieb schlich sich eines Nachts in die Hütte eines Mystikers. Es war gerade Vollmond und eigentlich war er aus Versehen in diese Hütte geraten. ansonsten ... was gibt es bei einem Mystiker schon zu stehlen?

Der Dieb schaute sich um und war überrascht, wie leer alles war. Plötzlich sah er einen Mann, der mit einer Kerze in der Hand daherkam.

Der Mann sagte: "Was suchst du hier im Dunkeln? Warum hast du mich nicht geweckt? Ich habe nahe bei der Tür geschlafen und hätte dir das ganze Haus zeigen können." Und dabei sah er so einfach und unschuldig aus, als könnte er sich überhaupt nicht vorstellen, einen Dieb vor sich zu haben.

Beim Anblick solcher Einfachheit und Unschuld sagte der Dieb: "Weißt du etwa nicht, daß ich ein Dieb bin?" 

Der Mystiker meinte: "Das macht nichts, jeder muß schließlich irgend etwas sein. Die Sache ist nur ... ich lebe seit dreißig Jahren in diesem Haus, und ich habe noch nie etwas gefunden. Wir können ja zusammen suchen! Uud wenn wir etwas finden, können wir es uns teilen. Ich habe in diesem Haus nichts gefunden, es ist leer."

Der Dieb bekam es mit der Angst zu tun - der Mann schien etwas merkwürdig zu sein, Entweder ist er verrückt oder ... wer weiß, was das für ein Mann ist? Er wollte davonrennen, außerdem hatte er draußen noch ein paar Sachen liegen lassen, die er in anderen Häusern gestohlen hatte.

Der Mystiker besaß nur eine Decke - das war alles, was er hatte - und die Nacht war kalt. Daher sagte er zu dem Dieb: "Geh so nicht fort, beleidige mich nicht. Ich könnte es mir nicht verzeihen, daß ein armer Mann, der mitten in der Nacht in mein Haus kommt, mit leeren Händen wieder fortgehen müßte. Hier, nimm diese Decke. Sie wird dir nützen, denn draußen ist es kalt. Ich bin im Haus, hier ist es wärmer." Und er legte dem Dieb die Decke um.

Jetzt begann der Dieb völlig den Verstand zu verlieren! Er rief: "Was tust du da? Ich bin doch ein Dieb!"

Der Mystiker antwortete: "Das macht nichts. Auf dieser Welt muß jeder irgendetwas sein, irgendetwas tun. Du stiehlst vielleicht, aber was macht das schon? - ein Beruf ist ein Beruf. Hauptsache, du machst deine Sache gut, meinen Segen hast du. Leiste gute Arbeit und laß dich nicht erwischen, sonst ergeht es dir schlecht."

Der Dieb sagte: "Du bist merkwürdig. Du bist nackt und hast gar nichts ..."

Der Mystiker meinte: "Mach dir keine Sorgen, ich komme mit dir! Mich hat nur die Decke noch im Haus gehalten, ansonsten gibt es hier nichts - und die Decke hast jetzt du. Ich komme mit dir mit, wir werden zusammen leben! Und du scheinst viele Dinge zu besitzen, das wird eine gute Partnerschaft. Ich habe dir mein ganzes Hab und Gut gegeben, du kannst mir etwas von deinen Sachen abgeben - das wäre gerecht."

Der Dieb konnte es nicht glauben. Er wollte nur noch weglaufen von diesem Haus und diesem Mann. Er sagte: "Nein, ich kann dich nicht mitnehmen. Ich habe Frau und Kinder. Und was werden die Nachbarn sagen, wenn ich einen nackten Mann mitbringe?"

Der Mystiker sagte: "Du hast recht. Ich will dich nicht in Verlegenheit bringen. Geh nur, ich bleibe hier in diesem Haus."

Als der Dieb fortging, rief ihm der Mystiker nach: "He, komm zurück!"

Der Dieb hatte noch nie eine so kraftvolle Stimme gehört, sie durchfuhr ihn wie ein Messer. Er mußte zurückgehen.

Der Mystiker sagte: "Du solltest etwas Höflichkeit lernen. Ich habe dir die Decke gegeben, und du hast mir nicht einmal gedankt. Bedanke dich gefälligst zuerst - das wird dir später helfen. Zweitens, wenn du weggehst, mach die Tür zu! Siehst du denn nicht, daß es kalt ist und ich nackt bin? Daß du ein Dieb bist, macht mir nichts aus, aber was Höflichkeit angeht, da bin ich genau. Dieses Benehmen kann ich nicht zulassen. Sage danke!"

Und der Dieb mußte danke sagen, dann schloß er die Tür und lief davon. Unglaublich, was da geschehen war! Die ganze Nacht lang konnte er nicht schlafen. Immer wieder mußte er daran denken. Noch nie hatte er eine so starke Stimme gehört, eine solche Kraft. Und dabei besaß der Mann nichts! Am nächsten Tag erfuhr er, daß dieser Mann ein großer Meister war. Er hatte einen Fehler begangen. Es war sehr häßlich von ihm, bei diesem armen Mann einzudringen. Er besaß nichts, aber er war ein großer Meister. Der Dieb sagte: "Jetzt verstehe ich. Er ist ein sehr merkwürdiger Mann. Ich habe in meinem Leben schon viele Menschen gesehen, von den ärmsten bis zu den reichsten, aber noch nie ... wenn ich nur daran denke, läuft mir noch ein Schauer über den Rücken. Als er mich zurückrief, hätte ich weglaufen können. Ich war völlig frei, ich hätte meine Sachen nehmen und weglaufen können, aber ich brachte es nicht fertig. In seiner Stimme war etwas, das mich zu ihm zurückzog".

 

Einige Monate später wurde der Dieb festgenommen und der Richter fragte ihn: "Gibt es jemand in deiner Nachbarschaft, der dich kennt?"

Er antwortete: "Ja, einer kennt mich" - und er nannte den Namen des Meistcrs.

Der Richter sagte: "Das genügt - ruft den Meister her. Seine Stimme wiegt;soviel wie die von zehntausend anderen. Was er über dich sagt, reicht mir, um ein Urteil zu fällen." Der Richter fragte den Meister. "Kennst du diesen Mann?"

Er sagte: "Ob ich ihn kenne? Wir sind Partner! Er ist mein Freund, einmal hat er mich sogar mitten in der Nacht besucht. Und weil es so kalt war, gab ich ihm meine Decke. Er hat sie um, siehst du? Diese Decke ist im ganzen Land bekannt, jeder weiß, daß sie mir gehört."

Der Richter sagte: "Er ist dein Freund? Und er stiehlt nicht?"

Der Meister sagte: "Nie! Er kann gar nicht stehlen. Er ist so ein Gentleman, daß er sich bedankte, als ich ihm die Decke gab. Und als er ging, schloß er vorsichtig die Türe hinter sich. Er ist ein sehr höflicher, netter Bursche."

Der Richter sagte: "Wenn du das sagst, dann sind die Aussagen der anderen Zeugen, die behaupten, er sei ein Dieb, hinfällig. Er ist frei."

Der Mystiker ging hinaus, aber der Dieb folgte ihm.

Der Mystiker sagte zu ihm: "Was soll das? Warum kommst du mir nach?"

Er antwortete: "Ich kann dich jetzt nie mehr verlassen. Du hast mich deinen Freund genannt, deinen Partner. Niemand hat mir jemals solchen Respekt erwiesen. Du bist der erste Mensch, der gesagt hat, ich sei ein Gentleman, ein netter Mensch. Ich werde zu deinen Füßen sitzen und lernen, so zu werden wie du. Woher hast du nur diese Reife, diese Kraft, diese Stärke und diese Art, die Dinge so völlig anders zu sehen?"

Der Mystiker ragte: "Weißt du, wie schlecht ich mich in jener Nacht gefühlt habe? Als du weggegangen warst, war es so kalt ohne die Decke, daß ich nicht schlafen konnte. So setzte ich mich einfach ans Fenster und beobachtete den Vollmond, und da kam mir ein Vers:

 

'Wäre ich reich genug gewesen,

ich hätte dem Ärmsten

diesen vollendeten Mond geschenkt.'

 

Die Diebe sollten ein paar Dinge lernen. Sie sollten wenigstens ein oder zwei Tage vorher Bescheid sagen, wenn sie zu einem Mann wie mir kommen, damit ich dafür sorgen kann, daß sie nicht mit leeren Händen gehen müssen. Und es ist gut, daß du dich vor Gericht an mich erinnert hast, denn diese Leute sind gefährlich, sie hätten dich womöglich schlecht behandelt. Ich hatte dir ja schon in jener Nacht eine Partnerschaft angeboten, aber du wolltest nicht. Jetzt willst du mit mir kommen! Ich habe nichts dagegen, du kannst gern kommen. Was immer ich habe, werde ich mit dir teilen. Aber es sind keine materiellen Werte, es ist etwas Unsichtbares."

Der Dieb sagte: "Das kann ich spüren - es ist etwas Unsichtbares. Du hast mir das Leben gerettet, und von jetzt an liegt mein Leben in deiner Hand. Mache daraus, was du willst, ich habe es doch nur verschwendet. Wenn ich dich ansehe, wenn ich in deine Augen schaue, ist mir eines klar: Du kannst mich verwandeln. Seit jener Nacht hab ich mich in sie verliebt." 1)

 

 Leihgaben

 

 

 

1) Osho, Beyond Psychology, #37