Aufnahme: Kerstin
Aufnahme: Kerstin

 

 

 

 

Dietrich Bonhoeffer

 

 

 

WER BIN ICH?

 

 

Wer bin ich?

Sie sagen mir oft, ich trete aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

 

Wer bin ich?

Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.

 

 

Wer bin ich?

Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der siegen gewohnt ist.

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

 

Wer bin ich?

Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

 

Wer bin ich?

Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!

 

~ Dietrich Bonhoeffer

 

 

Diese Zeilen* schrieb Dietrich Bonhoeffer im Militärgefängnis Berlin-Tegel und legte sie am 8. Juli 1944 einem Brief an einen Freund bei.

 

 

 

"Wünsche, an die wir uns zu sehr klammern, rauben uns

leicht etwas von dem, was wir sein sollen und können.

Es gibt erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche."

– Dietrich Bonhoeffer

 

 

*) Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe u. Aufzeichnungen aus der Haft. Hrg. von E. Bethge u.a. Ed. Kaiser im Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 1998,